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Der Rucksack ist randvoll gefüllt

Liebe Leserin, lieber Leser,

randvoll ist der Rucksack gefüllt, den ich aus meinem Sabbatical mitbringe, aus meiner zehnmonatigen Auszeit. Da ist zum Beispiel die dunkelblaue Schale mit dem goldenen Rand, die jetzt in meiner Küche steht. Sie erinnert mich an meine dreiwöchige Rundreise durch Marokko. Ich habe sie in Marrakesch gekauft. Neben den farbenprächtigen Gärten. Mit den Häuserfassaden in strahlendem, leuchtendem Königsblau. Von deren Dächern pinkfarbene Blumen herabfielen, wie ein Wasserfall. Hinunter zu den quietsch-gelben, neon-orangenen Töpfen neben den Eingangstüren. Sie erinnert mich an die schmalen, muffigen Gassen der Suks. Durch die knatternd und hupend die Mofas bretterten. Sich in gewagten Manövern durch die Massen der Menschen schlängelten. Die vor den Straßenständen standen, fasziniert von den funkelnden, silbernen Lampions. Dem frischgepressten, blutroten Granatapfelsaft. Dem rohen Fleisch, das offen und ungekühlt auf den Auslagen prangte und von dem die schwarzen Schmeißfliegen naschten. Sie erinnert mich an den Islam, der sich wie eine pulsierende Ader durch das Land zog. An den Ramadan, der den Rhythmus des Alltags bestimmte. Den Muezzin neben einer meiner Riads, der mich morgens um halb fünf aus dem Schlaf sang. An die verschleierten Frauen in ihren Burkas, die neben unverschleierten Mädels in Jeans durch die Straßen eilten. Es ist nur eine schmale Meerenge, die Nordafrika von Europa trennt. Und doch macht es eine ganz eigene, ganz andere Welt auf. Mit anderen Gesetzen, anderen Kulturen, Bräuchen und Werten. Anders, aber nicht schlechter. Das wurde mir bewusst in dieser Zeit. Sie hat meinen Blick verändert, geweitet. Mich losgelöst von dem Glauben, zu wissen, wie die Welt ist, wie sie funktioniert und wie sie zu funktionieren hat. Wie sich ihre Probleme lösen lassen. Ich habe erkannt, dass ich mit einem anderen Blick andere, neue Wege, Ansätze, Möglichkeiten sehe. Und dass es lohnt, sich darauf einzulassen.

Da ist auch die große Tafel aus Vollmilchschokolade in der gelben Verpackung, die heute in meinem Küchenschrank liegt. Sie erinnert mich an meine Zeit in Schweden. An Gespräche mit meiner ausgewanderten, deutschen Vermieterin über die grenzenlose Freiheit in diesem Land. Das ich lange Zeit als Vorreiter, Vorbild gesehen hatte. Weil die Schule inklusiv ist. Der Unterricht erst nach neun beginnt. Die Steuererklärung in ein paar Minuten erledigt ist. Weil es ein Land ist, in dem die Regierung auf Verbote verzichtet, auf Ratschläge setzt, an die sich alle zu halten scheinen. Ich erinnere mich an Menschen, die an der Kühltheke im Einkaufsladen so lange und geduldig in gebührendem Abstand hinter mir warteten, bis ich mich endlich für ein Produkt entschieden hatte. Die zurückhaltend, leise, fast schüchtern wirkten. Sich zurückzunehmen schienen für die Gesellschaft, für den anderen. Ein Land, das den Ethos lebt, dass Menschen ihr Leben frei, selbstständig und eigenverantwortlich leben. Doch ich habe erkannt, dass diese Art zu leben einen immensen Druck mit sich bringt. Den Druck, es alleine schaffen zu müssen, für sich selbst verantwortlich zu sein, nicht um Hilfe bitten zu dürfen. Bei Problemen, bei Sorgen und Nöten alleingelassen und einsam zu sein. Ich habe erkannt, wie schön eine Solidargemeinschaft ist. Eine Gesellschaft, die einander hilft, die sich unterstützt, die füreinander da ist.  

Da ist eine Orange, die heute in meiner Obstschale liegt. Mittlerweile braun und steinhart. Sie erinnert mich an meine Zeit in Südspanien, in Andalusien. An meine Tour mit dem Camper an der Küste entlang. An die unglaublich vielfältige Natur. Die tiefen Schluchten, die verregneten, dschungelartig bewachsenen Berge des Hinterlandes mit den Mango- und Avocadofarmen, die Orangenbäume, die den Wegesrand zieren, die Palmen am Meer, um die der stürmische Wind pfeift. An mediterranes, gutes, nahrhaftes, gesundes Essen. An Menschen voller Herz und Lachen. Die gastfreundlich sind, offen, unkompliziert. Die an einem Abend im Februar vor den Kneipen sitzen. Reden, lachen, genießen. Sie erinnert mich an ein Gefühl von Ausatmen, Durchatmen. Ein Gefühl von Zeit haben. Ein Gefühl von Unbeschwertheit, Leichtigkeit und Lebensfreude. Sie erinnert mich daran, dass ich nicht alle Probleme dieser Welt lösen kann und dass ich sie nicht lösen muss. Dass ich nicht dafür zuständig, verantwortlich bin. Und dass es in Ordnung ist, den Weltenrucksack einmal abzustellen. Abzugeben. Dass ich mich in dieser Welt freuen darf und glücklich sein darf.

All diese Erlebnisse, Erfahrungen, Erkenntnisse, die ich auf meiner Reise gesammelt habe. Vorsichtig packe ich sie aus meinem Rucksack. Lasse sie einfließen in meinen Alltag hier. Gebe sie hinein in mein Leben.  

Denn sie öffnen das Herz. Machen es weit. 

Ihre Ronja Goj
Online-Redaktion Pfarrbriefservice.de